Ein Praktikum in Australien
Fast jeder von uns hat wahrscheinlich schon ähnliche Ratschläge gehört: „Kind, du musst raus aus dem Haus, etwas sehen von der Welt, später machst du das nie wieder!“ Oder: „Du musst deine eigenen Erfahrungen sammeln, du musst erwachsen werden.“ – Ich könnte ewig so weitermachen…
Diese Meinung vertraten auch meine Eltern: „Bevor du je hier ins Geschäft einsteigst, musst du aber nochmal weg, am besten so weit wie möglich.“ Gut, kein Problem, ich entschied mich also für die wahrscheinlich höchstmögliche Distanz – 16.467,61 Kilometer Luftlinie – vom linken Niederrhein bis nach Melbourne, Australien. Durch zwei deutsche Möbelhersteller bot sich dann DIE Chance: Sechs Monate Abenteuer, Arbeit bei einem Händler mitten auf der fantastischsten Möbelmeile Australiens!
Lange überlegen musste ich – ehrlich gesagt – nicht, und Flug und Visum waren schneller organisiert, als ich es selbst gedacht hätte. Schon die Reise an sich war ein Erlebnis: 22 Stunden Flugzeit, mehrere Stunden Zeitverschiebung und Hochsommer in Australien, obwohl ich im Wintermantel in den Flieger gestiegen war. Der erste Eindruck? Umwerfend! Nicht unbedingt, was man mit dem bloßen Auge sehen kann, sondern eher die Stimmung Downunder. Völlig entspannt, freundlich, hilfsbereit. Warum Stress? Mit einem Latte to go und ein paar Minuten Verspätung lebt es sich doch viel besser. Der Kaffee traf sofort meinen Nerv, an alles andere musste ich mich erst noch gewöhnen.
Das Ladenlokal zeigte sich durchgestylt und schick, genau das Umfeld, auf das ich gehofft hatte. Die Verkaufsfläche war mit ungefähr 400 Quadratmetern sehr übersichtlich und bot mir eine neue Erfahrung im Verkaufsalltag. Jetzt wurde mir auch langsam bewusst, wozu meine ausgiebige Vorbereitung nützen sollte. So entspannt wie die Arbeitsmoral war auch die Planungsgestaltung. In der Hoffnung, der Kunde könne sich eine große, frei geplante Wohnlösung ausreichend vorstellen, wurde wenig Aufwand betrieben, um Computerplanungen herzustellen.
Solche Planungen wurden daher zu meiner Hauptaufgabe. Erste Kommunikations-schwierigkeiten entstanden: Nicht nur, dass Australier ein sehr gewöhnungsbedürftiges Englisch sprechen. Ich kannte ja auch keine einzige Fachvokabel. Aber, wie schon gesagt, der Australier an sich ist unglaublich hilfsbereit, und egal, was ich mit Händen und Füßen versucht habe zu erklären („headrest adjustment“ = „Kopfteilverstellung“), alle haben sich die größte Mühe gegeben mich zu verstehen. Und nach kurzer Zeit kannte ich mich aus, egal mit welchem Fachbegriff oder mit welcher Redewendung. Wie zum Beispiel mit „Good Morning, how are you today? “. Jeder einzelne Kunde in Australien wird beim Hereinkommen gefragt, wie es ihm geht. Die Antwort an sich ist egal und wird auch nicht abgewartet, aber die Floskel ist ein absolutes Muss.
Nach und nach durfte ich dann auch immer mehr selbst auf den Kunden zu gehen, Verkaufsgespräche führen, Planungen ausarbeiten und Hausbesuche durchführen. Das Tolle im Vergleich zu unserem Markt hier: Prozentschlachten gibt es nicht! Weil es eine überaus strenge Gliederung in Verkaufsgebiete gibt, durften wir beispielsweise einem Kunden aus Sydney nichts verkaufen. Das bedeutet gleichzeitig, dass der Kunde aus Melbourne und Umgebung nur bei uns kaufen konnte, wenn er unsere Produkte haben wollte.
Auch das Verhältnis zwischen Berater und Kunde ist ein ganz anderes. Nicht nur, dass man sich keinen Preiskampf liefern musste, man konnte sich auch sicher sein, dass der Kunde nicht direkt mit der Planung zum nächsten Konkurrenten läuft. So entstand schnell ein persönliches Vertrauensverhältnis, was dadurch noch gesteigert wurde, dass sich in Australien alle mit Vornamen ansprechen. Der Nachname interessiert niemanden, man ist direkt per Du.
Weil mein Praktikum sechs Monate dauerte, hatte ich die Möglichkeit, einige Kunden von ihrem ersten Besuch im Showroom, über die Planung, das Aufmaß bis hin zur Montage zu begleiten. Das war eine außergewöhnliche Erfahrung, an die ich mich immer gerne erinnern werde. Jetzt aber richtet sich mein Blick vor allem nach vorn: Wenn meine Ausbildung an der Möfa im Sommer endet, würde ich gerne als Assistentin der Geschäftsführung in einem mittelständischen Einrichtungshaus arbeiten, um erneut von erfahrenen Möblern zu lernen.
Text und Foto: Julia Dahlmann
jd@dahlmann-self.com